Gottfried Koch

Wien, Innere Stadt, Montag, 23. Januar 2006, ca. 9:15 Uhr: „Dieses Jahr hake ich ihn ab.“ Dessen war ich mir ganz sicher! Wie so oft in den letzten Wochen und Monaten war ich zum Training unterwegs. Den Engadiner Ski-Marathon wollte ich knacken. Seit 1977 war dies eines meiner großen sportlichen Ziele. Während meiner Zeit als Doktorand an der Uni St. Gallen hatte ich Freunde, welche jährlich an diesem ganz speziellen Schweizer Ereignis teilnahmen. Ich wollte dort auch teilnehmen…

Gottfried Koch © Günter Valda Photography

Doch es dauerte 28 Jahre, um einen erneuten ernsthaften Anlauf zu nehmen. Immer kam etwas dazwischen. Dieses Mal wird es! Der erste Teil des Trainings begann mit Kraft- und Dehnübungen. Marina, eine russische Ballerina, leitete mich dabei an. Am Ende, während einer Dehnübung, nahm sie nach dem Rechten auch meinen linken Arm, um etwas zu dehnen und danach zu lockern. „Komisch, dass das bei Ihnen so schwer geht. Normalerweise haben das nur Menschen, welche etwas am Herzen haben.“ „Tja, dort ist bei mir alles okay.“ Nach diesen Übungen ging es noch etwas auf das Laufband. Meinem Nachbar-Läufer sagte ich noch: „Na, mir tut aber heute mein linker Arm ziemlich weh und so ziehen tut es auch.“ Filmriss!

Wien, AKH, Notfallstation, Montag, 23. Januar 2006, ca. 15:00 Uhr: „Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Wiedergeburt. Sie können in Zukunft zwei Mal Geburtstag feiern.“ „Danke“ sage ich. „Aber ich möchte wieder dorthin zurück, wo ich war.“ Mir war sofort alles klar und bewusst, was da abgelaufen sein musste. Gleichwohl konnte ich die Aufregung um mich herum nicht teilen. Mir ging es gut, eigentlich sehr gut. Und im Grunde genommen wollte ich jetzt wieder gehen. Vielleicht noch etwas ausruhen. Aber das war es dann auch. Hier wollte ich nicht bleiben.

Wo war ich gewesen? Ich war in einer Oase des Friedens, der Geborgenheit gewesen. Ich hatte die Ruhe der Seele erfahren. Es ist nicht möglich, dieses Gefühl zu beschreiben. Das so Erfahrene entzieht sich unserer Ratio. Im Bewusstsein des Herzens trägt es derjenige mit sich, welcher an einem derartigen Ort war. Ganz so wie Mystiker das Glück einer inneren Gotteserfahrung haben durften. Der Sprachphilosoph Wittgenstein hat einmal gesagt: „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“. Dieser damals betretene Ort muss außerhalb unserer Alltagswelt gewesen sein. Er ist daher auch mit unserer Alltagssprache nicht zu beschreiben. Aber er war und ist!

Wien, AKH, Kardiologie, Montag, 23. Januar 2006, 18:00 Uhr, Besuch von Marina: „Puh, Gott sei Dank! Gottfried, was machen Sie? Ich bin fix und fertig!“ Und dann schluchzte sie, so dass sie kaum zu verstehen war: „Ein Glück, dass Robert da war.“ „Wer ist Robert?“ „Auch Fitness-Trainer und studierter Tierarzt. Er hat sofort gerufen: „Defi“ und ich bin um Ihr Leben gerannt. Robert hat Massage gemacht und dann, als ich mit dem Teil da war, den Defi benutzt. Ich bin für Sie die Hundert Meter in 10.0s gelaufen. Die Zeit, bis der Notarzt da war, kam mir wie eine Ewigkeit vor. Die mussten Sie nochmals mit dem Defi wiederbeleben. Lange haben die dann mit dem Rettungswagen vor dem Club gestanden, bis Sie transportfähig waren. Dort drinnen im Rettungswagen wurden Sie nochmals reanimiert.“

Juni 2013: Am „Engadiner“ habe ich 2006 nicht teilgenommen. Aber danach habe ich ihn sechs Mal absolviert. Bei vielen anderen Wettbewerben war ich ebenfalls mit von der Partie und viel Unglaubliches habe ich noch erleben dürfen. In der Oase, in welcher meine Seele Ruhe fand, war ich hingegen nie wieder. Ich freue mich auf sie. Aber diese Oase läuft mir nicht davon. Dort rechnet man in ewigen Dimensionen. Es hat also noch Zeit. Es gibt vorher noch Vieles abzuhaken!